Das unsichtbare Förderband

Zahnräder drehten sich, bewegten sich, reichten reichlich ineinander, um den Blick zu verstellen, nicht mehr zu zeigen, was die Arbeit zeitigt, was am Ende der bekannten Bänder unbekannt bis zur Entfremdung Tag und Nacht gefördert wird. Was Karl Marx, gedrängt von der Not, in seinen »Manuskripten« handschriftlich notierte, erschien in den Augen von Fritz Lang schon filmisch gestreift, in Metropolis geschnitten zur Ästhetisierung einer Zukunft vom Tod. Die Zahnräder drehten sich, bewegten die Arme, die Augen mit Blick auf den Fordismus des Sterbens, die Zukunft der Industrie. Mit Henry Ford als Parabel der Räder drehten sich die Zähne zur stumpfen Bewegung zahnloser Bänder, zum Verkehr an den sozialen Rändern der Not. An den Enden der Parabel schien die industrielle Entfremdung zu Ende, ein Danach ohne Bänder vor Augen, schon postfordistisch die Arbeit im zahnlos beschäftigten Blick. Blind fürs Industrielle der Produktion vom nackten Leben liegen nun die Kabel blank, drehen sich anstelle der blanken Zähne, aus Gewohnheit im Takt von Terminen, Tag und Nacht. Die Schlote fallen, verlassen ihr Schiff, verschlafen die Augen mit Blick auf das Parallele im Leben. Kein Zahnrad vor Augen die Nase im Wind, drehen sich nun die Termine kein Ende in Sicht. Sie reichen reichlich ineinander, bewegen sich, freiwillig, am laufenden Band den zahnlosen Bildschirm am Laufband im Blick. Im Takt des Digitalen schwingen die Arme, drehen sich, greifen der Verspätung ins verjüngte Gesicht. Keimfrei gefiltert dampft die Angst aus den Poren, die Ohren verkabelt im Rhythmus von bissigen Beats. Unsichtbar wachsen den Zahnrädern Zähne, fördern auf ihren reinen Rädern nagend den Zahn der Zeit. Die Reden vom Nachindustriellen füllen Bände, die Zeit an der Förderbänden sieht anders aus, hinfällig die Bände. Aus den Gewohnheiten der Verspätung treten Burnouts aus, verbrannte Lichter in den Öfen der Zeitindustrie. Die Relais scheinen zu schweigen, Fritz Lang schon tot, die Industrie am Leben.

Konturen einer Korrektur

Ein radikales Bild entwurzelt das Sehen, reißt am Sinn der Wurzeln, die am Ursprünglichen ziehen. Ein radikales Bild entwurzelt seinen Ursprung, legt seinen Grund in den Rahmen, der es vom Ursprung trennt. Es beginnt da, wo es endet, aufhört, nur Bild zu sein. Radikal entzieht es sich der Geschichte, dem Versuch eines Verstehens, dem Bild von Hier nach Da. Da, wo es endet, endet das Wissen, das es nur als Unwissen kennt. Nur darin ist es real, nur Abbild des Realen, für das es steht, das es bildet als Bild. Der Blick gewöhnt sich an das Begehren, es immer wieder zu sehen, an die Erfahrung, es nicht zu verstehen. Es stellt sich gegen das Verstehen, das sich unwissend am Unwissen vergeht. Es entzündet sich am Staunen, das es zu seinem Gesetz erhebt, die Differenz von Schön und Hässlich für unerheblich hält. Das Staunen sieht nur, dass es nicht weiß, was es sieht, nur erkennt, was es nicht versteht. Das radikale Bild kennt kein Warum. Es wiederholt nur, bestätigt die Frage, dass es so ist – insistiert auf die Paradoxie einer Fragwürdigkeit der Frage. Das radikale Bild zielt nur auf Korrekturen der Fragen, nicht auf Antworten, die sich nicht stellen. Es korrigiert die Frage, fragt nach einer bloßen Korrektur der Frage. Das radikale Bild wendet sich gegen sich selbst, bekennt sich zum Machwerk, dass es auch anders sein könnte, ein anderes Bild, das nur so sein kann, weil es auch anders sein könnte, weil es anders sein können muss. Dem radikalen Bild entspringt nur das andere Bild, das es auch sein könnte, das es werden könnte, das es schon ist. In diesem Blick, in diesem Staunen erscheint das andere Bild, das es schon ist,  als sein unmöglicher Ursprung, als seine unmögliche Entfernung zu sich selbst. Radikal beraubt es sich seiner Gegenwart, erscheint nur gegenwärtig, noch immer aktuell, bar seines Alters schon immer Gespenst. Unwissend wehrt es sich gegen den Geist, der sich ihm nähert, sein Unwissen nährt. Es korrigiert seine Fragen, die auf Antworten zielen. Es wehrt sich gegen Fragen, die in unbekannten Antworten ihren Ursprung haben, die sich schon an Antworten orientieren, am unbekannten Ursprung. Ein radikales Bild antwortet nur mit einer Frage, mit einer Korrektur der Frage, es entwurzelt die Frage, indem es sich an die Stelle einer Antwort setzt, die Antwort mit einer Frage besetzt, sich genau dahin begibt, wo man eine Antwort vermuten würde, das Bild einer Antwort, dass es so ist und nur so sein kann, um anders sein zu können.                     

Der grüne Krug

»Das ist ein schöner Krug da drüben«. »Der grüne«? »Ja, der grüne mit dem Schnabel. Das klingt ja, als würden Stimmen aus dem Krug dringen«. »Du meinst das Flüstern, das Singen«? »Ja, was ist das, was ist in dem Krug«?! »Das sind nur Gedanken, die mir so durch den Kopf gehen, ohne dass ich sie ausspreche oder aufschreibe, nur eine Sammlung von unverdauten Gedanken«. »Und wie kommen die da rein?! Was flüstert da im Krug«?! »Ich weiß auch nicht. Das hat irgendwann begonnen, einfach so, mit einer Wendung, einer Formulierung, die mir durch den Kopf ging und dann hörte ich sie plötzlich aus dem Krug, ganz leise, hörst Du, so wie jetzt«. »Ja, ich kann es hören. Aber das ist ja gar nicht Deine Stimme, wer flüstert hier«?! »Ich weiß nicht, ich glaube das ist die Sprache selbst«! »Wie meinst Du das?! Lass mal sehen«! »Nein, schau bitte nicht hinein, das habe ich auch schon gemacht und dann war das Flüstern weg, der Krug ganz leer«! »Und dann«?! »Dann hatte ich gedacht, ich hätte mich geirrt und mir das nur eingebildet. Und wie ich mir das gerade gedacht habe, ohne es auszusprechen, klang plötzlich genau dieser Satz aus dem Krug, ganz leise, nur geflüstert: Da habe ich mich wohl geirrt, da habe ich mir was eingebildet. Genau so. Nur ganz leise, so wie jetzt und immer wieder der gleiche Satz«. »Und dann«?! »Dann habe ich bemerkt, dass alle Gedanken, die mir so durch den Kopf gehen, im Krug landen, aus dem Krug flüstern«. »Was ist das für ein Krug«?! »Das ist ein ganz normaler Krug. Ich habe schon mehr davon«. »Wie?! Du hast mehr davon«! »Ja, immer der gleiche Krug nur in verschiedenen Farben, in meinen Lieblingsfarben. Ich habe einen ganzen Raum voll davon«. »Kann ich den Raum sehen«? »Gerne, aber schau bitte nur durch die Tür und nicht in die Krüge, ok«? »Ok«. »Und, was sagst Du«?! »Das sieht ja aus wie eine Bibliothek, eine Bibliothek aus Krügen«! »Ja, eine Bibliothek aus unausgesprochenen Gedanken, die zu leben scheinen, sich verselbständigen«. »Das ist ja wild! Aber es klingt schön«! »Ja, ich finde auch – besser als in meinem Kopf. Scheinbar verbinden sich die Gedanken und reihen sich neu aneinander«. »Darf ich kurz zuhören«? »Klar, wenn Du keine Angst hast«? »Das klingt ja wie ein Lied, ein Rauschen, ein Meer aus Wörtern«. »Ja, ich höre manchmal zu und wenn ich dabei an etwas denke, scheine ich schon den nächsten Krug zu füllen. Wie ein Kreislauf, der immer größer wird, eine Spirale aus Gedanken, die sich selbst denken«. »Komme ich in Deinen Gedanken auch vor«? »Was denkst Du! Hör zu, vielleicht hörst Du Deinen Namen, wie er die Sätze färbt, den Klang der Bilder, die er weckt«. »Ich staune nur, ich kann es nicht glauben«! »Ich habe mich schon daran gewöhnt. Gedanken, die ich nicht auszusprechen wage, weil ich sie nicht für möglich halte und wieder verwerfe, ja übergehe, diese Gedanken verselbständigen sich, verwandeln das Mögliche in eine Realität des Möglichen – als hätte das Mögliche eine Stimme, als würde das Mögliche die Stimme erheben«. »Du meinst, dass sich das Mögliche hier realisiert, hier in diesem Raum des Möglichen«? »Scheinbar kommunizieren die Stimmen miteinander zwischen den verschiedenen Krügen, wie die Bücher in Deiner Bibliothek. Wenn ein Buch durch die Nachbarschaft zu einem anderen plötzlich einen anderen Sinn bekommt, wenn Du etwa Duras neben Dostojewskij stellst, dann spürst Du die Möglichkeit von Dostojewskij in den Romanen von Duras, noch den Atem von seinem Idiot in ihrem Liebhaber«. »Ich glaube, Du bist ein Idiot und ein Liebhaber«. »Das ist wohl so und keine Möglichkeit«! »Hast Du schon einmal aus so einem Krug getrunken, ich meine ohne hineinzusehen, nur einen Schluck von den Stimmen«? »Nein, aber wir könnten es ja versuchen«. »Du meinst, ich auch«?! »Ja, warum nicht, lass uns beide einen Schluck nehmen«. Beide schlossen ihre Augen und nahmen einen Krug, um einen Schluck zu nehmen, um die Möglichkeiten zu kosten, auszukosten das Flüstern auf ihren Lippen, den Kuss des Möglichen, von der Möglichkeit geküsst.                  

Almanach und Kabbalah

Die Geschichte von Kabbalah und Almanach war von den Geschichten nicht zu trennen, die sie sich erzählten, weil sie sich nur getroffen haben, um sich diese zu erzählen. Und die Geschichten waren von den Orten nicht zu trennen, an denen sie sich trafen, um den Geschichten einen Ort und eine Stunde zu schenken, bloß einen Tag in Zeit und Raum. Mal erzählten beide, mal nur einer von beiden, um so ihre Geschichte aus Geschichten aneinanderzureihen. Verbunden nur durch die Treffen lebten Kabbalah und Almanach getrennt voneinander an unbekanntem Ort, füreinander ohne Herkunft bestimmt, nur in Übereinkunft für das nächste Treffen, die nächste Begegnung an diesem und jenem Ort. Mit der gleichen Zärtlichkeit ihrer Stimmen vereinbarten sie nur Stunde und Ort – beide entfernt genug, um der Reise und Freude genug Raum zu bieten, Zeit genug, um das Näherkommen, das Nahen zu fühlen. Die Wahl von Stunde und Ort entlehnten sie den Geschichten, den Orten in den Vorstädten, den Dünen und Wüsten, im Norden und Süden, im Schnee und am Meer. Diesen verdankten sie ihre Mäntel und Hosen, hier das Kleid für Kabbalah, dort schon barfüßig der Almanach. Während einer von beiden erzählte, konnte der andere der Geschichte lauschen, der Farbe der Stimme, der Augen, der Kleidung, dem Wind im Haar. Über die Jahre färbten sich auch die Geschichten, das Kolorit der Sprache der Nähe der beiden ganz nah. Es waren immer andere Geschichten, die sich aneinander gewöhnten, sich aneinander fügten wie eine Geschichte von Almanach und Kabbalah.                  

Das versteckte Geschenk

Sie hatte nur gesagt, dass sie selbst vergessen hätte, wo sie das Geschenk versteckt hatte, es verlegt hätte, um von seiner Suche selbst überrascht zu werden. »Ich will Dich sehen, wie Du suchst, wie Du aussiehst, wenn Du suchst – ich will Dein Suchen finden, welche Bilder es erfindet, nur sehen, wonach Du suchst«. Die Aufgabe forderte ihn heraus, versuchte ihn, suchte ihn heim wie eine Versuchung, den heimlichen Vorstellungen zu begegnen, den Spuren zu folgen, die von seinen heimlichen Vorstellungen gezogen werden, von den Vorstellungen, die sie von seinen Vorstellungen hatte. Was stellte sie sich vor, was er sich vorstellte, was er sich als Geschenk vorstellte, was sie ihm schenken könnte? Was stellte sie sich vor, was er nicht hatte, was er nicht erreichen konnte, immer nur halb fassen konnte, nur vorgestellt, getrennt vom Ziel nur durch die Distanz der bloßen Vorstellung als Geschenk, nie anders bekommen wird denn als Geschenk? Sie versuchte ihm zu helfen: »Ich will Dich sehen, wie Du Dir Deine Überraschung vorstellst, welche Bilder Du Dir von der Überraschung machst, woran Du denkst, wenn Dich etwas überraschen soll. Ich will Dein Überrascht-Sein finden, will mich überraschen lassen von Deiner Überraschung. Das Geschenk, nach dem Du suchst, wird meine Überraschung sein, Deine Überraschung wird mein Geschenk sein, ich will Dein Suchen finden, will das Geschenk finden, das mir Deine Suche bereitet, das Geschenk, das Dein Suchen versteckt«. So begann er zu suchen, nach seinem Geschenk zu suchen, das durch seine Suche zugleich ihr Geschenk und ihre Überraschung werden sollte. Er suchte in ihren Augen, legte suchend den Blick in ihre Augen, führte suchend seine Nase an ihren Hals, in ihr Haar, suchte nach einem Geruch, nach einem Hinweis ihrer Vorstellungen von den seinen. Seine Versuchung legte ihm nahe, es ohne Augen zu versuchen, die Augen zu schließen, nur den Vorstellungen zu folgen, den Händen zu folgen, den tastenden Fingern, die sich an ihrer Haut versuchten, an den Brüsten, an der Richtung der Brustwarzen, die einen Hinweis geben könnten, einen Anhaltspunkt in jeder Hand, die Synchronie einer Bewegung, kreisend, der Parabel einer Spur, einem Hinweis in ihrem Atmen, in ihrem Schlucken. Er fühlte, dass auch sie ihm nur mehr mit geschlossenen Augen zusah, sich sein Suchen vorstellte, seinem Suchen antwortete, ohne zu viel zu verraten, ohne ihr Geschenk zu verraten, sein Suchen mit ihrem Körper begleitete, sich überraschen ließ, von ihrem eigenen Körper, wie er sich von ihrem Körper versucht fühlte, sich auf der Suche leiten ließ, vom Geschmack ihrer Haut auf seiner Zunge, vom Geruch ihrer Spuren der Überraschung, vom Echo seines Suchens, der Erkundungen der Suche, vom Bild, das sich seine Hände von ihrem Geschenk machten, vom Bild, das sich seine Finger von ihrem Versteck machten, von ihren Vorstellungen von den seinen. Als wäre es schon Teil der Verpackung begann er sie vollends zu entblößen, sich selbst zu entblößen, sein Suchen ihrem Finden ähnlich zu machen, mit seinem ganzen Körper zu suchen, in ihrem Körper zu suchen, in seinem Körper dem Suchen nachzuspüren, ihren Blick auf seinem suchenden Körper zu spüren, die Verwunderung zu spüren, sein Staunen in ihren Augen zu sehen, in ihrem Lächeln die Vorfreude zu sehen, hautnah das Bild des Geschenks auftauchen zu sehen, zu verfolgen, wie sich das Suchen ein Bild vom zu Findenden macht, wie die Suche ein Bild vom Finden entwickelt, das Versteck im Suchen entdeckt. Es gab kein Wort zu verlieren, langsam begann er seine Vorstellung von ihr zu entdecken, seinen Vorstellungen zu folgen, sie zuzulassen, sie in ihr zu entdecken, sie zu finden, sie zu sehen, wie sie ihn sehen konnte, wie sie ihm zusehen konnte, wie er sie fand, wie er das Geschenk annehmen konnte und wie sie seine Suche als Geschenk annehmen konnte, wie sie ihn überraschte und wie sie von seiner überraschenden Suche überrascht war. So hatten beide das verlegte Geschenk gefunden, sie hatten das Suchen gefunden, die Versuchung nur im Suchen zu finden, fast süchtig nach dem Suchen, nach dem Geschenk des Suchens, das Geschenk im Geschenk.          

Brieshit Pardon

Brieshit Pardon war keine Schauspielerin. Sie hatte nie eine Rolle gespielt, keine, keine einzige, nicht bei Hans-im-Glück und nicht bei Jean-Luc. Sie verachtete seine Verachtung, ja beneidete ihn darum, liebte ihn unwissend, im Wissen um den Schutz, der von seiner Verachtung ausging. Seine Verachtung war das Einzige, dem sie trauen konnte, von der sie wusste, dass sich diese nie ändern würde. Seine Verachtung würde sie nie betrügen. Er würde sie wie alles auf der Welt verachten, sie einschließen in seine Verachtung, sie unter Quarantäne stellen, in Schutz nehmen, in Quarantäne seiner Verachtung nehmen. Beschissen hat Brieshit nur das Leben, zwei oder dreimal, immer wieder unter anderen Namen, im Namen der Liebe, vor der sie sich nicht schützen konnte, die ihre Geschichte wurde, in ihrem Leben eine Rolle spielte, eine unliebsame Rolle, immer die gleiche, mit Brieshit – ohne Pardon wie ein Film, den sie sich immer wieder ansehen musste, in dem sie sich immer wieder ansehen musste, die gleiche Geschichte im letzten Jahr und die Jahre davor. Replay Le Mépris. Rewind L’amour. Die andere Geschichte in der gleichen Rolle, mal für mal die Mechanik des Unbekannten zu erahnen, sie nicht zu verstehen aber zu ahnen, dass die verschiedenen Gründe einem Muster folgten, einer Struktur des Unbekannten. Ein Verdacht, ein verachteter Verdacht, die Rollen zu wechseln, zu tauschen die Rollen von Ursache und Opfer, die beschissene Ursache zu spielen, sich selbst zu verachten, in der Verachtung die Liebe zu schützen, sie vor ihr selbst zu schützen, die Verachtung lieben zu lernen, um die Liebe in Quarantäne zu stellen. Verachtet war die Liebe sicher gestellt, auf Distanz gehalten, von Brieshit vor Brieshit in Sicherheit gebracht – dort hinüber, wo seine Verachtung wartete, lauerte, verächtlich auf ihre Verachtung blickte, auf die Ähnlichkeit der beiden, auf das Gespenst einer Gemeinsamkeit. Seine Kamera hielt die Dinge auf Distanz, verdinglichte die Distanz, die ihrer Rolle eingeschrieben war, ihr auf den Leib geschrieben war. Seine Kamera hielt fest, wie sie ihren Körper als Kamera einsetzte, wie sie kein Bild sondern die Kamera verkörperte, die Blicke provoziert, seine Kamera provozierte, seine Verachtung reizte, herausforderte, sie zu verachten, ihre Verachtung zu verachten, sich einzugestehen, dass er sie liebte, weil er sie verachtete.

Eine schöne Regierung

Man könnte sagen, es gibt eine Macht des Dadaismus, die darin liegt, den illusionistischen Horizont von Sinn zerschnitten zu haben, die Grammatik dieser Illusion von Sinn auseinander genommen zu haben. Das Insistieren aufs Bruchstückhafte, das Fragmentieren der Syntax zelebrierte den Widerstand gegen den Illusionismus genauso wie die Allegorie als Sprache dieser Widerständigkeit. In der Allegorie erscheint der Sinn nur als zerbrochener, buchstäblich widersinnig: Von der Sprache bleibt nur mehr das Rudimentäre, das nackte Wort, die entblößte Silbe, entstellt im Antlitz der Collage die Verweigerung von Sinn, und wenn doch, dann als der Sinn von Unsinn. Im Widersinnigen der Macht des Dadaismus offenbarte sich allegorisch das Widersinnige der Macht. Die Macht des Dadaismus basierte auf einer Kritik von Macht. Deshalb wäre es zur Zeit des Dadaismus nicht vorstellbar gewesen, aus der Macht des Dadaismus die Forderung nach »Dadaisten an die Macht« abzuleiten. Sie hatten die Macht des Entmachtens, ohne sich am anderen Ende des Entmachtens wieder der Machtergreifung zu bemächtigen. Sie hatten nicht im Sinn, in der Entmachtung nur die Präambel einer Machtergreifung zu sehen, um am anderen Ende wieder mächtig der Macht das Wort zu reden. Im Kontext des Widersinnigen hätte dies keinen Sinn gemacht, wäre nur als Sinn von Unsinn zu besinnen gewesen. Wie gesagt: HÄTTE. WÄRE. Dem Konjunktivischen dieser Annahme setzt die zeitgenössische Politik Schranken, verwandelt sie doch das Unvorstellbare in Vorstellbares, das Widersinnige wieder in Sinn. Wovon die Dadaisten nicht einmal träumen wollten, von der Machtergreifung der Sprachkritik, scheint sich nun zu realisieren. Theoretisch würde man sagen: Liest man zeitgenössische Zeitungen, wird man Zeuge der Umsetzung strukturalistischer Sprachphilosophie, Zeuge einer widersinnigen Hegemonie der Sprachkritik, die erkannte, dass es zwischen einem Wort und dem Gegenstand, den es bezeichnet, nur einen arbiträren Zusammenhang gibt. Warum ein Gegenstand so heißt wie er heißt, liegt nicht im Gegenstand begründet, lässt sich nicht aus diesem ableiten. Warum er so heißt wie er heißt, ist allein das Produkt einer Übereinkunft ihn so und so zu nennen, theoretisch könnte er auch anders heißen: Baum, tree, arbre, albero…das ist auch ein Moment des Albernen am Arbiträren, wenn man so will: das Schöne an der Sprache, ihr politisches Antlitz. Das war das Vermächtnis der Dadaisten, diesem arbiträren Verhältnis auch eine Schönheit abzugewinnen, den Sinn der Schönheit von einem schönen Sinn zu entkoppeln. Nun liest man über zeitgenössische Politik in zeitgenössischen Zeitungen. Es geht in gewohnten Rhythmen um Regierungsbildungen, mithin um die Frage, wer die Regierung bildet und wie man sich die Struktur dieser Regierung vorstellt, um überhaupt regieren zu können. Sicherlich, zugegebenermaßen: Es ist schwierig. Es ist schwierig, weil alles mit allem zusammenhängt, das Private mit dem Öffentlichen, die Innen- mit der Außenpolitik, die Wirtschaftspolitik mit DEM Sozialen, die Kulturpolitik mit der Demografie etc. Es ist schwierig und noch schwieriger, weil es keinen Sinn gibt, der integer die Widersprüche und das Widersinnige vereinen könnte, außer dem Unsinn, dessen Schönheit politisch noch nicht offen ausgesprochen wird, um DIE Öffentlichkeit nicht mit einer möglichen Realität zu konfrontieren, sie vor dem Wissen ums Widersinnige zu schützen. In diesem Sinne schreibt der politische Diskurs den Illusionismus von Sinn fort, bedient sich aber offensichtlich und widersinnig einer dadaistischen Methode, um die Willkürlichkeit der Agenden zu benennen. Ganz sprachphilosophisch korrekt, hat ja die Bezeichnung eines möglichen Ministeriums oder Ressorts nur ein arbiträres Verhältnis zu dem Gegenstand, der regiert werden will. Jeder Bereich könnte ja auch anders heißen. Und so liest man dann die Vorschläge wie man sich die Regierung und die Bereiche, die hier regiert werden wollen, vorstellt wie ein dadaistisches Manifest. Es scheint nicht nur arbiträr zu sein, wie die Bereiche heißen sollen, konsequent arbiträr erscheint auch die Frage, wer welchen dieser Bereiche regieren soll. In der Willkürlichkeit der möglichen Benennungen und Besetzungen der Ministerien kommt die sprachphilosophische Erkenntnis des Arbiträren klar zum Ausdruck. Da es ohnehin nur willkürliche Zuordnungen sind, ist auch unerheblich, wer mit welcher Kompetenz welches Ressort übernimmt. Das arbiträre Verhältnis der Politiker und Politikerinnen zu ihrem Gegenstand bleibt gültig, mit anderen Worten: beliebig. Die Kompetenz leitet sich nicht vom Gegenstand ab, den es zu regieren gilt, sondern aus dem Wissen um die Illusion von Sinn, mithin die Verwaltung von Unsinn. Die von Max Weber formulierte Ästhetisierung der Bürokratie erfährt mit der zeitgenössischen Politik eine neue Dimension, eine Epoche der Bürokratisierung der Ästhetik, der Revitalisierung eines ästhetischen Vermächtnisses, wenn man so will: das Recycling eines kulturellen Erbes. Die Macht des Dadaismus, die Macht zu entmachten, wird nochmals entmachtet, um den Dadaismus nun an die Macht zu bringen, das Widersinnige der Macht zu bevollmächtigen. Österreich, dieses kleine Land, wird es geschafft haben, Dada an die Macht zu bringen, die erste dadaistische Regierung zu bilden, die auch alle sprachphilosophischen Erkenntnisse in die Regierungsbildung integriert. Eine Regierung des Arbiträren, strukturiert nach Beliebigkeit und Belieben. Dada ist an der Macht. Man könnte Angst davor haben, aber man kann es auch schön finden, eine kunstaffine Regierung, eine schöne Regierung. 

A Rose is a rose…arose.

Er hätte auch Blumen mitbringen können, ein paar bunte Blüten, um die Zeit zu färben, diese Geste des Gedeihens von Stunden, eine bloße Notation von Licht. Die Farbe des Augenblicks nährt sich von der Dauer, die sich nur färbt, nur verwandelt die Chronologie von Stunden. Unverblümt dringt aus seiner Sprache das Suchen nach Erinnerung, das Ausgraben einer Gegenwart, an die man sich erinnern wird – wie an die Blumen, die sich kein Blatt vor den Mund nehmen, keine Angst haben einen Raum zu zieren, die Dimensionen zärtlich zu ändern. Aus seinem Mund wächst das Zuhören in den Wortschatz hinein, die Färbung des Wartens zur semantischen Kraft. Nichts geht verloren, wenn er kein Wort verliert, die Stimme fürs Lauschen erhebt, er hörte nur zu, gleichzeitig von verschiedenen Seiten, von dort drüben, wo die Blumen hätten stehen können, von daneben, wo morgen jemand sitzen wird. Es ist ein nomadisches Lauschen, jedes Wort nur ein Zelt in der Zeit. Der Begriff eines Treffens trifft es nicht, trifft nicht die Begegnung, die es war. Eine Begegnung ist mehr als ein Treffen, erzählt von einer Begebenheit, erscheint so selten wie das selten gewordene Wort: Begebenheiten binden sich ans Erinnern, sind unzeitgemäße Geschwister der Gegenwart. Begegnungen sind Begebenheiten, die über den Ereignishorizont der Gegenwart hinausreichen, sie reflexiv färben, indem sie eine Spur des Erzählbaren ziehen, in die Gegenwart den Faden eines Narratives einbinden. Im Labyrinth der Gegenwart geht die Begegnung nicht verloren, kein Wort bleibt zurück, keine Geste, die nicht mitkommt, mitwandert in den nomadischen Horizont der Begebenheit. Man konnte fühlen, wie das Erinnern dem Gedächtnis vorauseilte, wie das Sich-Erinnern-Werden schon vor der Zeit der Erinnerung am Werk war. Er sagte nur ein paar Sätze, die das Erinnern wachriefen, eine Gegenwart skizzierten, an die man sich erinnerte – als wäre es die Wiederkehr einer Einmaligkeit, das Entdecken eines Ereignisses, vergraben nur im Glauben an die eigenen Biografie. Sein archäologisches Werkzeug war das Zuhören, das nomadische Lauschen, um durch die Geburtstagsrituale hindurch zu graben, an der ersten Kerze vorbei, über die Nabelschnur hinaus, in andere Biografien, in andere Epochen, den Klang des Epischen im Ohr. Die Blumen, die er mitbringen hätte können, nur ein paar bunte Blüten, zierten die Erinnerung. 

83

Die Linie 83, die vom alten Hafen die Küste entlang zum Strand führt, vom Veux Port zur La Plage – und wer will – auch weiter hinauf die Avenue du Prado, spielt schon mit ihrem Namen, dem sie einer Primzahl verdankt, auf ihre Unteilbarkeit an – auf ihre Einzigartigkeit, auf die Reise neben dem Trottoir mit einer »quatre-vingt trois«. Ihre Intervalle ganz Primadonna, also unregelmäßig, unberechenbar und doch nur so geliebt, ganz Primzahl, teilt sie sich nur mit einem, dem Chauffeur und sich selbst, nur ihrem Ruf verpflichtet, eine Diva, die auf sich warten lässt, die Grenzen der Geduld ausreizt, auskostet den Rumor der Menge, die sie am Gehsteig produziert, provoziert die Blicke, die Sehnsucht in den Augen, spielt mit der Angst, sie zu verpassen, zu versäumen, wenn sie kommt. Ohne Hast und Eile, als hätte sie nur die Zeit übersehen, schwingt sie ihre Hüften die Straße entlang, hat nur Augen für ihn, ihren conducteur, der sie dirigiert, mit seinem rund erigierten Stab, ganz unfranzösisch en Anglais, als »conductor« nach ihren Noten sucht. Man sieht sie in seinen Augen, die Peinlichkeit des Chauffeurs, seine Unbeholfenheit, wenn er doch zu Tisch gebeten wird, zu den vielen Gabeln, den Gläsern, den Gästen, die ihm auf die Finger schauen, ihm übel nehmen, dass er die Primadonna fährt, ihre Launen erfährt, zu früh am Morgen und spät durch die Nacht. Er kennt sie besser, die quatre-vingt trois, ihre Reize und Rhythmen im und nach dem Verkehr, wenn sie verschläft und aus der Garage schlüpft. Er kennt sie besser. Sie flucht auf der Flucht vor denen, die sie nehmen wollen, die sie bezahlen wollen, hin und retour, als würde es nicht reichen, aus ihren Augen das Meer zu sehen, das Strandgut von Architektur. Er kennt sie besser, den Stolz der quatre-vingt trois, er weiß, dass er sie belügen soll, und sie weiß es, sie will es, dass er ihr sagen soll, dass sie einzigartig ist, die seine, seine Primadonna, dass jede ihrer Strecken ein einmaliges Erlebnis ist, immer die gleiche Strecke, die Linie von Vieux Port das Meer entlang, immer anders, unteilbar individuell, eine prima Linie, gesäumt von Armut und Reichtum, ohne Respekt vor Zentrum und Peripherie. Sie kennt sie alle, allzu gut, wenn sie verliebt aus den Fenstern schauen, gedankenverloren, innehalten, wenn sie sich anhalten, einnicken, einschlafen, sich reindrängen, rausdrängen, aufdrängen im Gedränge, ihrer Geduld. Sie kennt sie alle, ihre Fans, die auf sie warten, auf ihre Kurven, auf ihren Auftritt in der Rue. Sie ist der Star in der Manege, die Primzahl von Marseille.

 

Marseille

Im Gehäuse einer Stimmung, umschlungen vom Geräusch der Wellen, der raschelnden Palmen, ziehen die Segel durch die Straßen von Marseille, die Gassen der capitale de la journée. Der Pinsel streift die Gesichter, deren Geschichten en papier. Sie gleichen sich, ähneln sich, in ihrer Verschiedenheit, die sie teilen, gemeinsam haben, in common: die disparité: L’unité d’une disparité – als wäre es der Name einer Busstation, eine mögliche Destination, an der man aussteigen muss, immer schon ausgestiegen ist, um sich durchs Leben zu schlagen. Der Sinn weht vom Meer her, in die Stadt, in die Gebäude, die sich am Meer orientieren, sich nach dem Meer ausrichten, die Fenstersegel im maghrebinischen Wind. Im Dunst der Kolonialgeschichte erhebt sich eine Sprachinsel, quer über die Dächer einer Lingua Franca, Idiom einer Disparität à la mer. Mehrstimmig lachen die Möwen über den Chor der Verspäteten, die immer noch ihre Netze flicken, verflixt und zugenäht und auf den Bus warten: Attends voir! Attends un moment! Un Moment des Familiären, wenn das Kind auf der Trommel die Violine des Vaters begleitet, ihn begleitet, sich die Stimme der Almosen erhebt, am Strand der Gestrandeten, die Küste des Kapitals. Die Pegelstände der Hoffnung schaben an den Mauern, in den Spalten der Erinnerung. Unterm Stern der Disparité ist der Abstand zwischen den geöffneten Austern und den weggeworfenen Schalen gering, sehr gering und von malerischer Natur, nur Maßstab des Pittoresken für ein lautes Bild. Der Sonnenpinsel streift über die Küste, öffnet die Türen der Verliebten an der Côte d’Azur. Für sie beginnt der Sommer mit jedem Augenblick, die Saison der naschenden Hände im synchronen Schritt. Nur ein paar Meter Marseille, die capitale de la journée.